Damit E-Books für sehbehinderte Menschen besser zugänglich werden
Themenbereich: Gesellschaft
Land: Deutschland
Kategorie: Projekt
Nina Pick und Hannes Frisch über die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben durch die PRH Verlagsgruppe.
Am 28. Juni ist in Deutschland das Gesetz zur Stärkung der Barrierefreiheit, das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), in Kraft getreten. Ziel ist es, die vielfach immer noch bestehenden Barrieren für Menschen mit Behinderung abzubauen und ihnen mehr Teilhabe zu ermöglichen. Für Verlagshäuser bedeutet das Gesetz unter anderem, dass der gesamte Inhalt von E-Books für sehbehinderte oder blinde Menschen zugänglich gemacht wird und dafür zu sorgen ist, dass die Inhalte auch gefunden werden können. In der Penguin Random House Verlagsgruppe haben Nina Pick, Senior Manager Produktdaten & E-Book Operations im Produktmanagement, und Hannes Frisch, Digital Producer in der Digitalen Herstellung, eine Projektgruppe ins Leben gerufen, um genau das umzusetzen. Im Interview mit Isabelle Nentwich von der Verlagsgruppe berichten sie, wie sie dabei vorgegangen sind.
Ihr beiden seid der federführende Teil der Projektgruppe „Barrierefreiheit“ in der Verlagsgruppe. Wo seid ihr gestartet? Und wie ging es von da an weiter?
Hannes Frisch: Mit Barrierefreiheit beschäftigen wir uns in der Verlagsgruppe schon länger. Armin Köhler, Leiter der Digitalen Herstellung, hatte auch vor dem BFSG die neuesten Entwicklungen im Blick, und wir haben das Thema immer wieder mit externen Experten zum Produkt E-Book besprochen. Als das Gesetz kam, war das für uns also kein komplett neues Terrain.
Nina Pick: Vor eineinhalb Jahren ungefähr standen wir dann an dem Punkt, dass wir wussten, wann die Rechtsprechung in Kraft treten würde und dass wir abklären mussten, was sie für uns bedeutet und wie wir das in die Praxis umsetzen. Zu dem Zeitpunkt waren noch viele Punkte unklar: Was machen wir zum Beispiel mit Bildbänden? Und im Bereich Metadaten mussten wir erst herausfinden, welche Informationen für die sehbehinderten und blinden Kund:innen überhaupt wichtig sind und wie wir diese Infos dem E-Book in ONIX mitgeben. Das alles zu klären, hat am Anfang sehr viel Zeit in Anspruch genommen. Als wir dann letzten Herbst konkrete Aussagen machen konnten, haben wir weitere Kolleg:innen und Abteilungen mit einbezogen. Die letzten neun Monate haben wir dann gemeinsam an der Umsetzung gearbeitet.
Was genau musste umgesetzt werden?
Hannes Frisch: Damit ein E-Book barrierefrei ist, muss es drei grundlegende Anforderungen erfüllen. Die erste ist eine funktionierende, strukturierte Navigation sowie eine semantische Auszeichnung innerhalb der E-Book-Datei. Damit können sich blinde oder sehbehinderte Menschen ein E-Book oder eine PDF wirklich sinnvoll vom Screenreader vorlesen lassen, sie können Einstiegspunkte finden und über das Inhaltsverzeichnis im Text navigieren. Wir haben dafür eine Standardisierung entwickelt, durch die wir diese Vorgabe schon länger erfüllen. Die zweite Anforderung sind die Alternativtexte. Die sind für bebilderte E-Books relevant. Wir müssen Bildbeschreibungen zur Verfügung stellen, die von den Screenreadern vorgelesen werden können. So können sich Menschen mit Sehbehinderung Abbildungen im Text vorstellen und erschließen. Um diese beiden Dinge kümmern wir uns in der Herstellung. Und in der dritten Anforderung geht es um die Metadaten.
Nina Pick: Da komme ich dann ins Spiel. Ich bin im Produktmanagement unter anderem für die für die Produkt- und Metadaten im E-Book zuständig. Wir haben dafür gesorgt, dass Kund:innen vor dem Kauf erkennen können, dass das Produkt barrierefrei ist. Die relevanten Infos zur Barrierefreiheit des E-Books entnehmen wir aus unterschiedlichen Quellen, zum Beispiel den E-Book-Metadaten, und zeigen sie automatisiert in unseren internen Systemen an. Von dort werden sie in die entsprechende ONIX-Datei übernommen und die Informationen auf diesem Weg an unsere Vertriebspartner übertragen und unseren Endkund:innen zur Verfügung gestellt.
Vor einigen Monaten wurde für Verlagsgruppen-Mitarbeiter:innen ein digitaler Workshop von Expert:innen der Deutschen Blindenstudienanstalt e. V. (Blista) zu Alternativtexten veranstaltet. Habt ihr euch für das Projekt auch externe Expert:innen zum Thema dazugeholt?
Nina Pick: Hannes ist in der AG „E-Book“ und ich in der Metadaten-AG des Börsenvereins, und wir beide sind Teil der Taskforce „Barrierefreiheit“. Da sind auch Mitglieder von Blista dabei. Der Austausch mit den Expert:innen fand auf diesem Weg schon im Vorfeld statt. Unsere Best Practices haben wir in Abstimmung mit diesen Expert:innen entwickelt, und das war natürlich sehr hilfreich. Und wir sind auch nach Inkrafttreten des BFSG im Austausch mit den Blista-Kolleg:innen und gespannt, was sie uns zurückmelden.
Bis zum Stichtag des Inkrafttretens des BFSG müssen alle Neuerscheinungen barrierefrei sein. Wie sieht es mit den Backlist-Titeln aus?
Hannes Frisch: Unsere Backlist umfasst momentan um die 20.000 lieferbare E-Books. Für die gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keine offizielle Regelung bezüglich einer Verpflichtung zur barrierefreien Umsetzung. Wir haben aber trotzdem den Anspruch, auch die Backlist im Rahmen unserer Möglichkeiten nach und nach barrierefrei umzusetzen. Dafür hat uns der Vertrieb eine Prioritätenliste erstellt. Ältere Titel, die sich immer noch gut verkaufen oder aus einem anderen Grund aktuell relevant sind, stehen da natürlich weiter oben. Diese Liste arbeiten wir jetzt step by step ab.
Nina Pick: Die Kolleg:innen in der Branche und auch wir gehen davon aus, dass die Umsetzung der Barrierefreiheit in der Backlist bis zum 28. Juni technisch einfach nicht machbar ist – allein wegen der schieren Menge.
Kann KI bei der Umsetzung der Barrierefreiheitsmaßnahmen helfen?
Hannes Frisch: Ja, für die Generierung der Alternativtexte für die zahlreichen Backlist-Titel testen wir in Zusammenarbeit mit unserem Tech & Data-Team bereits KI. Momentan ist es allerdings noch nötig, die KI-generierten Alternativtexte zu kontrollieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Das ist natürlich ein enormer Zeitaufwand. Aber wir sind der Überzeugung, dass die KI immer präziser wird und wir die Kontrolle für die Alternativtexte nach und nach verringern können. Bei unseren bebilderten Novitäten setzen wir im Moment auf Alternativtexte, die von ausgewählten Korrektor:innen geschrieben werden. Diesen Workflow haben wir zusammen mit unserem Korrektorats-Team ins Leben gerufen.
Das „Wesen des Produkts“ soll durch die Maßnahmen zur Barrierefreiheit nicht verändert werden, heißt es im Gesetz. Was bedeutet das für Bildbände oder illustrierte Bücher?
Hannes Frisch: Bildbände pauschal mit Alternativtexten zu versehen, wäre nicht praktikabel. Bei sehr layout- oder bildlastigen Titeln muss man schon genauer hinschauen, ob eine barrierefreie Umsetzung sinnvoll ist. Deshalb sind die in der angesprochenen Backlist-Priorisierungsliste eher im unteren Bereich, reine Textbände aber ganz oben. Wir haben aber zum Beispiel schon über die Titel von Walter Moers gesprochen, die irgendwie eine Mischung sind. Da stellt sich die Frage, bekommt man das wesentliche der Illustrationen, besonders den Humor, über einen Alternativtext überhaupt transportiert? Grundsätzlich ist es aber natürlich unser Plan, alle E-Books, bei denen es sinnvoll ist, mit Alternativtexten auszustatten.
Nina Pick: Es kann im Einzelfall aber auch die Entscheidung getroffen werden, dass wir den Titel nicht barrierefrei machen können. Diese Entscheidung muss dann intern im System hinterlegt werden, sodass die Info dokumentiert ist. Unklar ist noch, ob beziehungsweise wie das an die künftige neue Meldestelle kommuniziert werden muss.
Das Gesetz gilt nicht nur für E-Books, sondern auch für den E-Commerce, also auch für die Verlagsgruppen-Website penguin.de. Was muss hier gemacht werden?
Nina Pick: Prinzipiell muss überall dort, wo gekauft werden kann, auch die Informationen zur Barrierefreiheit zur Verfügung stehen. Für sehbehinderte oder blinde Kund:innen muss klar sein, ob ein E-Book für sie barrierefrei ist. Wie genau wir das für penguin.de umsetzen, klären wir gerade noch mit dem Marketing-Team ab. Wir wollen aber auf der Website nicht nur über das Produkt informieren, sondern auch allgemein zum Thema Barrierefreiheit. Dafür haben wir einen FAQ-Bereich eingerichtet.
Das klingt nach einem umfangreichen Projekt. Was war denn die größte Herausforderung?
Nina Pick: Wie am Anfang kurz erwähnt, war es zu Beginn sehr unklar, was das Gesetz überhaupt von uns verlangt. Es geht ja um die Umsetzung einer EU-Verordnung, die mehr als sinnvoll ist, aber für uns auch nicht mal eben umsetzbar. Die Auslegung einer solchen Verordnung unterscheidet sich auch je nach Land. Da standen wir vor der Herausforderung, dass wir zunächst keine klaren Vorgaben für die Praxis hatten. Das zu erarbeiten war eine große Erfahrung. Da bin ich dem Börsenverein sehr dankbar für die Gründung der Taskforce Barrierefreiheit. Wir waren im regelmäßigen Austausch mit Branchenkolleg:innen und haben uns gemeinsam vorgearbeitet. Das gibt mir das Gefühl, dass wir gut aufgestellt sind.
Hannes Frisch: Für die Hersteller-Seite war die sehr heterogene Datenlage eine große Herausforderung. Die ersten E-Books haben wir 2010 veröffentlicht. Da ist es an manchen Stellen schwierig, alle auf den gleichen technischen Stand von heute zu bringen, damit man zum Beispiel Alternativtext einpflegen kann. Aber dafür haben wir eine passende Software gefunden, die unsere Backlist-Titel aufarbeitet. Wir haben im Prozess gemerkt, dass es viel anstrengender ist, ein Produkt im Nachhinein so zu bearbeiten, dass es barrierefrei ist. Für die Zukunft haben wir aber jetzt Prozesse etabliert, damit unsere E-Books von Anfang an barrierefrei angedacht und umgesetzt werden. Im Fachjargon heißt das „Born Accessible“.
Ansprechpartner
Rebecca Prager
Penguin Random House Verlagsgruppe, Leitung Unternehmenskommunikation
Tel.: +49 (0) 89 4136-3129